Ehrwürdiges Alter
Daniel Schneider

Eilig war der Strom der Jungen und Arbeitenden im Umland der Stadt versickert und hatte den kleinen Ort namens V. um acht Uhr früh leer und schlaff hinter sich zurückgelassen. Nahezu senkrecht entstiegen helle Rauchbänder den Schornsteinen, verirrten sich in der eisigen Luft über den Dächern, wurden durchsichtig und schwanden schließlich ganz. Drei Tauben schwangen sich leise gurrend hinter den Glockenschlägen des backsteinroten Kirchturmes in den wolkenlosen Himmel und ließen sich keine zwanzig Meter entfernt selig in den Wipfel einer Edeltanne gleiten. In der Ferne wurde ein unterkühlter Motor hastig angelassen, ein Auto entfernte sich und hinterließ winterliches Schweigen. Flach atmend lagen die Vorgärten den alten Fachwerkhäusern und Neubauten vor, um sich lediglich durch das zeitweilige Anheben der knisternden Blätterdecke bemerkbar zu machen. Leere Garagen, dunkle Hauseingänge, kinderlose Gassen und Straßen warteten wortlos.

Einzelne Firstrücken drückten sich unter dem Gewicht der Dachpfannen durch und dort, wo die Gassen schmal waren, neigten sich die Fachwerke gegenseitig zu, um die Schattenfinger ihrer Giebel vor dem faltigen Novemberlicht zu kreuzen.

Wie nach einem Aderlass schienen sich die Gefäße des Dorfes zu entspannen, der kleine Platz zwischen den beiden Schänken erging sich weitläufig und die Pfastersteine lagen locker nebeneinander, von keinem festen Tritt beschwert. Dem letzten verklingenden Glockenschlage nach streute die niedrig wandernde Scheibe ihr Licht durch die Gassen und in die Hauseingänge, aus denen hier und da plötzlich kleine, dunkel gekleidete Gestalten traten. Sie lösten sich von den Türen, die sie sorgsam hinter sich ins Schloss zogen, um sich gemessenen Schrittes der Straße zuzuneigen. Voll Bedacht setzten sie einen Fuß vor den anderen, in dem Bestreben einem ungenannten Ziele nahezurücken. Silberne Haarfäden und kräftige Staturen bewegten sich in Richtung der backsteinernen Kirche, sie bogen an der Hauptstraße ab und wiesen den Männern die pelzumhüllten Rücken. Dem Kriege hatte der rote Turm getrotzt, nur wenige seiner Schieferschindeln eingebüßt, und so erwartete er den behutsam wandelnden Zug der Frauen mit stoischer Gelassenheit.

Den Männern war ein anderes Ziel, die kurzschrittig die Hauptstraße hinabgingen, sich in grauen Paaren zusammenfanden und stumm ihren Weg fortsetzten, als würden sie einem überlieferten Ritual die Ehre erweisen. Aus den Paaren wurden kleine Gruppen, aus den kleinen Gruppen eine, die zwischen den beiden Schänken zu raschelndem Halt kam. Wie auf ein geheimes Zeichen hin formierten sich die Grauhaarigen, öffneten die Tür der linken Schänke und verschwanden Mantel um Mantel hinter dem Vorhang aus gastronomischer Finsternis.

Nur wenige Augenblicke später war das Schauspiel vorbei. Die Straße zeigte sich wieder still und unbeschritten, während in der Kirche die Frauen pergamenten abgenutzte Psalme murmelten und ihre blassen Stimmen zum gemeinsamen Gesang erhoben.

In den Wipfel einer Edeltanne

So kühl wie zwischen den hölzernen Kirchenbänken war es im Schankraum nicht, durch den die Alten schweigend wanderten. Mit leicht gesenktem Kopf nickte ihnen der stämmige Wirt zu und schürzte seine von drahtigem Schnauzer verdeckte Oberlippe, nachdem sie im Nebenraum verschwunden waren. Auf einen Wink seiner Hand hin trug eine zierliche Bedienung die frisch gezapften Kölschstandgen nach nebenan und erschien gleich darauf mit verlegenem Lächeln im Rahmen.

Nachdrücklich schloss sich in ihrem Rücken die Tür, und die Stille im Raum der Alten wurde von Mäntelrascheln und dem quietschenden Schleifen eines Rollstuhles vorsichtig angetastet.

Buschige Augenbrauen dehnten sich herrisch, als das Dutzend um den hölzernen Tisch Aufstellung bezog, sich ehrerbietig zunickte und endlich niederließ. Pfeifen wurden mit wohlriechendem Tabak gestopft, Brillengläser geputzt und trockene Kehlen geräuspert oder mit einem Nippen am Bier besänftigt. Faltige Gesichter, die nicht nur von Alter, sondern auch von Geschichten kündeten, wandten sich gegenseitig zu, und Krähenfüße spielten in ihren Augenwinkeln. Fleckige Handrücken, trocken und groß, legten sich sanft nebeneinander oder achteten auf die erhabenen Rauchringe, die der dunklen Zimmerdecke entgegenschwebten. Große Gesichter nickten vogelgleich, ohne dass auch nur eine Silbe die tief eingeschnittenen Mundwinkel passiert hätte.

"Freunde!" sprach unvermittelt eine tief grollende Stimme, und die Anwesenden wandten sich dem schütteren Haupt des Rollstuhlfahrers zu, dessen eisengraue Augen in die Runde stachen.

"Freunde!" intonierte der Alte mit erdigem Pathos. "Lasst uns Klartext sprechen!" Nach diesen Worten hob er seine Rechte zum Mund, fingerte kurze Zeit am Gaumen herum und knallte im nächsten Moment sein Gebiß auf die dunkelbraune Tischplatte.

"Hat eina phon oich die Feldbusch gesehen? Mann, pas sag' ich euch, pas is vielleich en lecka Mädche..." In seine Augen war ein jugendlicher Schalk geschlüpft, der mit Wohlwollen besah, wie allerorten Gebisse knirschten und an ein oder zwei Stellen Urinflaschen am Rande der kölschgekrönten Tischplatte sichtbar wurden.

"Jau, da möcht´ man noch mal jung sein.", sagte ein glucksender Greis mit verklärtem Blick und erntete rege Zustimmung aus dem Kreis der rauchend ehrwürdigen Weisen.

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Daniel Schneider,
am 19.9.1977 in Bonn geboren, lebt in Rott an der Sieg und schreibt, seitdem in der Grundschule die Zensur aufgehoben wurde. Eigentlich zählen für ihn auf dieser Welt nur Schreiben, Leben und Lieben - wobei eine Verschiebung der Gewichtigkeit nicht ausgeschlossen ist.

Ansonsten studiert er Germanistik, Geographie und Philosophie in Bonn und bereist die Welt: all dies mit dem (Berufs-) Ziel, glücklich zu werden. Seine letzte Reise führte ihn in die Unruhen des Bombenanschlages von Nairobi, aus denen er viele Gedankensplitter nach Deutschland hinüberretten konnte.

Diese Worte stammen alle aus der 'Kritischen Ausgabe' der Fachschaft Germanistik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Leider konnte ich den Autor nicht persönlich erreichen, hoffe aber auf sein Einverständnis diese Worte hier veröffentlichen zu dürfen. Sollte das nicht der Fall sein, bitte ich um eine kurze Mail und ich entferne diese Html-Seite.


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